Nach-geschichte
die zwei Streit-Hähne haben sich für mich als große Lehrmeister erwiesen und einen Tag später – mit etwas Distanz – sehe ich die Situation in einem helleren Licht.
Sie haben mir ein großes Geschenk der Erkenntnis gebracht und zwar so groß, dass der Stoff jetzt wohl für das ganze Jahr 2022 ausreichen wird. Denn es wurde mir klar, dass die Themen AGGRESSION/ der narzisstische KONFLIKT/ die narzisstische KRÄNKUNG und das INNERE KIND nach Aufmerksamkeit rufen. Deshalb erkläre ich hiermit diesen Themenkomplex zum Jahresthema. Zumindest so lange, bis er sich erschöpft bzw. erlöst hat (Ukraine ist ein sehr geeigneter Standort dafür. Nicht nur weil meine Heimat in einen aggressiven Konflikt mit Russland verstrickt ist. Sondern weil in Osteuropa Aggressivität und Grenzüberschreitung unverdeckter sind (so zumindest empfinde ich es). Anders als in Mittel- und Westeuropa, wo Aggression nach meiner Wahrnehmung viel gründlicher unter den Teppich gekehrt wird). Ihr könnt hier, wenn Ihr wollt, meine innere Arbeit in Form von Texten bezeugen. Und selbstverständlich sind Worte nur ein mentales Gerüst, nur die Spitze des Eisbergs. Sie sind lediglich Wegweiser, Zeichen, während die eigentliche ´Arbeit´ im Inneren, im Emotionellen stattfindet. Doch was wären wir ohne Zeichen im außen? Ohne Worte und Wegweiser? Ohne ein Gegenüber? Deshalb bin ich froh und dankbar, in Euch ein Gegenüber (Gleichgesinnte) oder auch – was nicht minder wichtig ist – ein Gegen-über (Andersgesinnte) vorzufinden. Denn das motiviert mich, manches GedankenGefühl in Textform fließen zu lassen und vielleicht sogar einen Austausch anzuregen. Doch nun zurück zu den Hähnen, die mich haben folgendes erkennen lassen.
Hähne sind bedeutsame Krafttiere
Hähne scheuen sich nicht davor, sich zu zeigen und sich zu präsentieren: „Der Hahn möchte (…) Dich einladen aktiv an der Gestaltung Deines Lebens mitzuwirken. Durch sein stolzes Gehabe möchte er Dich auffordern Dein Haupt erhoben zu tragen, Dich zu zeigen und zu Dir zu stehen.“ (https://www.wirkendekraft.at/Krafttier_Hahn-Huhn/)
Hähne sind angeborene Wecker. Wobei sie nicht nur aus dem physischen, sondern auch aus dem seelischen Schlaf (Schlaf des Bewusstseins) wecken können. Und der letztere ist viel subtiler..
Clarissa Pinkola Estés, Autorin des Weltbestsellers „Die Wolfsfrau“, führt einige Symptome auf, die darauf hindeuten, dass die Seele, das heißt das Lebendige, Ursprüngliche und Ur-wüchsige im Menschen, schläft. Es sind unter anderem:
„Sich ungewöhnlich trocken anfühlen, ausgelaugt, allzu verletzlich, deprimiert, verwirrt, lustlos, machtlos, ängstlich, verunsichert, unfähig, selbst etwas auf die Beine zu stellen oder sich zu zeigen, wie man ist. Zu schwach, uninspiriert, abgekämpft, feige, überflüssig, schamhaft, schmutzig, häßlich, schuldbewußt, geistig minderbemittelt, steif.
Oder man hat ständig eine Wut im Bauch, könnte durchdrehen, ist dabei aber steckengeblieben, unkreativ und bedrückt. Man zweifelt, jammert, zieht nichts durch, überläßt anderen die kreativen Aufgaben, kuscht vor Autoritätspersonen, sucht sich Partner, Chefs, Freunde, die einem Lebenskraft absaugen, ist defensiv, zickig, kann sich auf keine tiefere Beziehung einlassen, die Arbeit nicht sinnvoll einteilen oder vernünftige Grenzen setzen.
Man fühlt sich kraft- und elanlos, ist viel zu leicht herumzukriegen, viel zu lieb und nett, würde irgendwann blutige Rache nehmen. Man bringt es nicht fertig, Schluß zu machen, etwas Neues zu versuchen, fühlt sich im Grunde aber haushoch überlegen, weiß, daß man durchaus kompetent und im Vollbesitz der geistigen Kräfte ist.
Dennoch besteht man nicht auf sein eigenes Arbeitstempo, ist schamvoll befangen, fühlt sich fern von Gott, manchmal von allen guten Geistern verlassen, abgeschnitten, vom Haushalt, dem Intellekt, der Arbeit oder einer lähmenden Apathie gefangengenommen, weil dies die Zufluchtorte sind, wenn man seine Instinkte verloren hat.“ (Clarissa Pinkola Estés: Die Wolfsfrau, 2014: 26)
Wenn die eigene Seele schläft, fehlt das Lebendige und Wilde (= das Urwüchsige), das Natürliche und Spielerische. Im Seelenschlaf orientiert man sich lediglich an äußeren (von außen vorgegebenen) Attributen und Normen.
Dies taten die beiden Hähne definitiv nicht. Doch wäre ihnen nicht ausgerechnet das Wilde fast zum Verhängnis geworden? Denn was zuerst nach spielerischem Kräftemessen aussah, ist zu einem blutigen Konflikt mutiert. Bergen Instinkte nicht genauso eine Gefahr der Gewalt, wie es das Normierte tut? Ist das blind Instinktive – zumindest bei uns Menschen – womöglich auch ein Anzeichen dafür, dass die Seele schläft?
Stolzes Gehabe und authentisches Sich-Zeigen grenzen eng aneinander
Offensichtlich konnten die Hähne in ihrem Hormonrausch das Risiko einander zu traumatisieren oder gar zu ermorden nicht einschätzen (Tiere haben, wie ich einmal gelesen habe, im Gegensatz zu uns Menschen kein Konzept von Tod). Jeder von ihnen wollte ganz instinktiv der Alleinherrscher sein und an der Spitze der Hühnerhierarchie stehen.
Doch haben wir Menschen nicht ähnlich verbittert Jahrtausende lang um eine Allein- und Vor-herrschaft gekämpft? Haben wir nicht in jeder Angelegenheit mit Worten und Waffen markiert, was gelten darf und soll und was nicht? Haben wir nicht alles mögliche ´besetzt´, um davon dann besessen zu werden? Haben wir nicht überall Zustände kreiert, bei denen „nur x“ oder „nur y“ gilt? Haben wir nicht diesem unscheinbaren nur zu viel Macht in unserem Geist und Tun gegeben? Ist dieses nur nicht längst zu einem Diskriminierungs- und Kriegsmarker geworden? Trennt dieses nur nicht das, was auf einer tieferen Ebene zusammengehört und zusammenhängt? Erschafft es nicht unnötigerweise Grenzen da, wo fließende Übergänge möglich wären? Bedeutet Ausschluss des Anders-artigen nicht zwingend Selbsteinschränkung des Eigen-artigen?
Haben wir uns bereits nicht alle so sehr in jeden aussichtslosen Kampf für x und gegen y verstrickt, dass jeder von uns bereits so isoliert, zersplittert, so allein ist, dass aus dem ursprünglichen All-Ein(s) das wortwörtliche Allein zu werden droht?..
All-Ein(s) und Allein markieren wie auch nur Extreme genauso wie Individuum und Kollektiv zwei Extrempole markieren. Aus Sicht der Numerologie lässt sich diese Vorliebe für Extremes aus dem Zeitgeist der Zahl eins ableiten, der vom ersten Jahr unserer Zeitrechnung bis 1999 ge-herr-scht hat. NUR eins von zweien durfte gültig sein. NUR Gott im Himmel (aber keine Göttin auf Erden). NUR Materie (aber kein Geist). NUR ich (aber kein Du). NUR du (aber kein Ich). NUR Glauben (aber kein Wissen) ((„Vertrau-mir“, sagten Geistliche)). NUR Wissen (aber kein Glauben) ((„Vertrau-mir“, sagen jetzt Wissen-schafftler, womit sie zu neuen Geistlichen werden)). NUR rechts (aber kein Links). NUR links (aber kein Rechts). NUR Mitte (aber bitte keine Extreme). NUR stark (aber kein Schwach). NUR tun (aber kein Sein). ((als ob männliche und weibliche Eigenschaften nicht miteinander verwoben wären, wie es die rechte Körperhälfte mit der linken Hirnhälfte tut..)).
Jedes NUR führt zum AUSSCHLUSS. AUSSCHLUSS führt zum Kampf. Kampf führt potentiell zum Tod oder Mord. Dieser führt zum Verlust von Ich und/oder Gegen-über. Und warum kämpft man eigentlich? Ist der Kampf nicht ein Mittel zum Zweck, um als eigen-artiges Ich neben einem anders-artigen Du be-stehen und leben zu dürfen?..
Viele, die als nicht groß oder nicht wichtig genug erklärt wurden, durften oft weder gleichberechtigt noch da sein. Als nicht groß, stark oder würdig genug wurden systematisch Pflanzen, Tiere und Kinder erklärt.
Nehmen wir Kinder. Sie wurden von vielen narzisstisch gekränkten und traumatisierten Älteren (Eltern kommt auch von Ältere) – oft unbewusst und stellvertretend für deren echten Täter – ver-höhnt, ver-bessert, ver-letzt, das heißt bekämpft. Das Kind wurde in der kollektiven Entwicklung immer mehr zum Feind, zum Bösen (hier verweise ich auf den Sammelband über die Geschichte der Kindheit in Europa „Hört ihr die Kinder weinen? Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit“, herausgegeben von Lloyd deMause). Folglich wurde für manches Kind gar eigene Mutter zur Gefahr, was eine perfekte Basis für das spätere Stockholm-Syndrom bildete. Die Grenze zwischen einem Beschützer und einem, vor dem man sich körperlich-geistig-seelisch schützen muss, wurde fließend. Innere und/oder äußere Flucht war normal. Sich-nicht-im-ganzen-Gefühlsspektrum zu zeigen war eine kluge Überlebensstrategie. Folglich konnte auch kaum jemand das Risiko eingehen, sich mit seiner konstruktiven Aggression zu zeigen. Ein Gegenüber wurde unberechenbar und konnte wenn nicht gleich gefährlich, dann zumindest ver-ur-teil-end werden. Ein nicht gefährliches Gegen-über wurde genauso selten wie ein echtes Gegenüber. Erlebnisse eines gefährlichen Gegen-übers summierten sich im eigenen Inneren und bildeten den Prototyp dessen, was ein Gegenüber bedeutete: „Vorsicht! potentiell gefährlich.“ Es ging gar so weit, dass dieser Gegen-über-Prototyp Einzug ins eigene Innenleben hielt (Psychoanalytiker nennen es Introjekt) und – dem Trojanischen Pferd ähnlich – den seelischen Innenraum zu besetzen drohte.. Lieber versteckte man sich auch vor ihm, das heißt vor sich selbst..
Auch Hähne wollen in Wirklichkeit ein Gegenüber
Bei den Hähnen war tatsächlich der Wunsch nach einem Gegenüber im Spiel. Denn gestern habe ich Euch etwas Wesentliches aus dieser Geschichte rausgelassen, denn ich selbst habe es erst später erfahren. Es hat sich nämlich eine Vor-Geschichte auf dem Hühnerhof ereignet, dessen Zeuge zufällig Thomas wurde.
Der eine Hahn hat ein Huhn ´besessen´. Der andere Hahn wollte es auch, doch das Huhn wollte nicht.. Daraufhin hat der andere Hahn den einen Hahn attackiert. Aus Neid? Aus Eifersucht? Aus innerer Not? Als Ersatzhandlung?.. Es muss sich bei ihm eine Art Kurzschluss-´Denken´ ereignet haben, dass es an dem einen Hahn liegt, warum er, der andere Hahn, zu kurz kommt. So muss er sich ´gedacht´ haben, dass es gut ist, endlich der eine Hahn zu werden, nicht mehr der andere. Sein eigentliches Motiv (das Huhn) hat er ´vergessen´ und ein Ersatzziel gewählt: Der eine Hahn. Scheinbar wurde er von seinem biologischen Programm getäuscht oder gefangen, denn scheinbar stehen einem Hahn nur zwei Optionen zur Verfügung, seiner Aggressivität Ausdruck zu verleihen: Entweder das Huhn zu ´besitzen´ (der primäre Wunsch) oder den Hahn zu kämpfen, der das Huhn besitzt (als Ersatzhandlung). Folgen aus diesem tierischen Entweder-Oder all die Variationen des menschlichen nur xy?
Hähne sind im Entweder-Oder festgefahren. Wir auch?
Ich behaupte, dass nein, dass es genau genommen das Mensch-Sein ausmacht, sich aus der Alternativlosigkeit eines Kurzschluss-Denkens zu befreien. Dazu nutzen wir Menschen die Erkenntnis, wo genau sich etwas festgefahren kann, und die Kreativität, um etwas Altes schöpferisch in etwas Neues zu verwandeln.
Fehlt uns zum Beispiel nach alter Gewohnheit ein echtes Gegenüber, können wir erstmal uns selbst zu einem echten Gegenüber machen. So habe ich einst in einer solchen Phase erfahren, dass dazu nicht nur Selbst-Gespräche mit dem Tagebuch oder Gott zielführend sind, sondern auch Bäume und Tiere sehr dankbare (denn absolut authentische) Gegenüber sein können.
Im Moment meditiere ich unter einem gespaltenen Kirschbaum (siehe das Bild oben). Dieser Kirschbaum lehrt mich, dass eine Zwei-heit aus einer Ein-heit kommt. Er lehrt mich auch, dass zwischen Zwei ein Leerraum (oder Lehrraum?) liegt. Gott? Stille? Pause? Phantasie?.. Dieser Leer- und Lehrraum ist schöpferisch und spielerisch.
Ähnlich fühlt wohl der Mystiker Llewellyn Vaughan-Lee in „Die Matrix des Lebens. Das heilige Weibliche und die Wandlung der Welt“ (2015), wenn er vom schöpferischen Dialog mit der symbolischen Welt schreibt: „In diesem schöpferischen Dialog offenbart sich die Möglichkeit, mitgestaltend in Beziehung mit der Schöpfung zu treten und unmittelbar mit dem Ganzen in Kontakt zu kommen. Indem wir helfen, die Symbole, welche die Seele der Welt heilen und nähren, in den Alltag zu bringen, beginnen wir unsere Verantwortung wahrzunehmen.“ (ebd., S. 71).
Verantworten kann man erst, wenn man ein Gegenüber hat, dem man ant-worten, also ´entgegen worten´ kann (das Präfix ant– bedeutet ‘(ent)gegen’).
Ge-walt folgt aus der Enge
Fast hätte ich vergessen noch eine zweite wesentliche Vor-geschichte zu erwähnen, die dem Hahn-Streit vorausging. Bedingt durch eine lange Schnee- und Kältephase durften Hühner und Hähne – so hat meine Mutter allein-herrisch beschlossen – nicht raus. Dazu wurden Männchen und Weibchen voneinander isoliert. Sie konnten sich folglich nicht ihren Instinkten gemäß austauschen und waren lange Zeit auf engem Raum gefangen. War es vielleicht der wahre Grund, warum die Hähne plötzlich so aggressiv wurden?.. Wenn das so wäre, so wäre ihre Aggression eine Folge der Gewalt, die ursächlich vom Menschen ausging.. Denn das ist spezifisch menschliche Gewalt: Andere Lebewesen in ihrem Raum einzuengen und – als wenn dies allein schon nicht genug gewalt-tätig wäre – noch Gewaltlosigkeit von ihnen zu erwarten.
Wäre dem Hahn-Streit vorgebeugt, wenn meine Mutter ihre unbewusste Gewalt gegenüber den im Vergleich zu ihr schwächeren und noch dazu von ihr abhängigen Hähnen und Hühnern erkannt hätte?..