Brief an das Leben

Wie es dazu kam

Heute ist der 31.12., aber es ist purer Zufall, dass ich ausgerechnet heute diesen Brief schreibe, denn ihn zu schreiben habe ich nicht geplant, er erfolgt aus dem morgendlichen Impuls bei einer Tasse Tee mit Gott. Wobei das Leben mir heute sogar früher begegnete, als eine Meise. Unserem Fenster gegenüber wächst ein strauchförmiger, wuscheliger Baum, der ein beliebter Aufenthaltsort vieler Meisen ist:

Sie saß heute früh am äußersten Rande eines in nächster Nähe liegenden Astes und sang aus vollem Herzen. Ich blieb verwundert auf dem Balkon stehen und lauschte. Es war, als ob sie mir etwas zu erzählen hätte. Übersetzt – und das nur annähernd – war es dies: Was für ein Wundertag! Es geht mir ausgezeichnet! Es geht mir ausgezeichnet! Was für ein köstliches Frühstück habe ich gehabt! Was für ein zarter Nieselregen! Was für ein Tag!

Die Inspiration pur in Form dieses winzig kleinen Vogels, der so laut und selbstvergessen das Leben zu feiern wusste. Während das menschliche Wesen oft verängstigt und eingeigelt vor sich hin existiert. Ich kenne das, denn ich bin immer noch jeden Tag mit Folgen dessen in Form von subtilen Verspannungen im Bauch konfrontiert. Aber langsam öffne ich mich, strecke meinen Kopf vorsichtig wie eine Blume, die sich noch nicht gut kennt, der Sonne entgegen, horche Meisen und anderen Vögeln, spüre Regungen des Lebens um und in mir. Aber nie zuvor habe ich einen Brief an das Leben geschrieben. So versuche ich das jetzt.

Der Brief

Liebes Leben,

Du wächst durch jede Zelle meines Daseins, durch jeden Atemzug nährst Du mich, Du gibt mir Unterschlupf und sorgst für mich auf unzähligen Wegen, über Bäume, Menschen und Dinge, Du singst mir ein Morgenlied als Meise, Du trinkst mit mir Tee als Thomas, Du skypst mit mir als meine Mutter.

Als ich noch klein war, habe ich das gespürt. Ich habe mich in Dir geborgen gefühlt. Jeden Abend spürte ich Deine Geborgenheit, wenn ich beobachtete, wie Menschen nach Hause eilten, wenn ich mir vorstellte, dass jeder von ihnen bei sich zur Ruhe kommt, Schutz und Kraft und abendliche Stille findet. Besonders wenn am Abend ein (Schnee)sturm tobte, ein Fest der Sinne, weiße Schneeflocken oder Regentropfen tanzend und dem Wind hingegeben. Ich malte Bilder, wie sich Mensch und Tier in die Wärme seines Zuhauses begibt, sicher, geborgen, beschützt dort ist. Jeder hatte einen solchen Platz, jeder fühlte sich auf meinem Bild getragen und geborgen.

Dann kam es zu Brüchen und zu Tränen. Ich fühlte mich nicht mehr sicher und geborgen. Aus Geborgenheit wurde Gebrochenheit. Du weißt es selbst nur zu genau.

Ich gab Dir lange Schuld dafür, denn es sollte doch anders sein. Du kennt mich doch und meine Bedürfnisse. Warum hast Du Dich damals für mich nicht eingesetzt? Warum hast Du mich allein gelassen? Warum nur? Ich fühlte mich verraten und sehr traurig. Du kennst die Tränenmengen, die ich damals geweint habe. Davon brauche ich Dir jetzt nicht zu erzählen. Wie konnte ich Dir je vertrauen? Aus einem perfekten Spiegelbild blieben nur Spiegelsplitter zurück, an denen ich mich immer wieder verletzte. Aus ganzer Kraft kämpfte ich mit Dir, verlangte das zurück, was in meiner Erinnerung als Paradies gespeichert war. Aber umso mehr ich mit Dir kämpfte, umso mehr Splitter verletzten mich. Es war, als ob Du mit derselben Kraft gegen mich gekämpft hättest, mit der ich meine Hilflosigkeit bekämpft habe. Du wurdest zu meinem Feind, mir nicht mehr gutgesinnt, sondern mich bedrohend und bekämpfend. „Ich bin nicht dein Feind“, versicherte mir mein Vater. Ich glaubte es ihm jedoch nicht. Wie denn, wenn seine Handlungen seinen Worten widersprachen. Wie denn konnte ich Dir, das Leben, diese Worte abnehmen, wenn Du gegen mich zu sein schienst.

„Ich bin nicht dein Feind“

„Ich bin nicht dein Feind“, flüsterte beharrlich und leise das Leben, immer leiser, nur manchmal laut durch die Stimme meines Vaters. Wenn ich so zurückschaue, dann weiß ich, dass Du mir, das Leben, nicht nur über meinen Vater Deine Wohlbesonnenheit versichertest, sondern über viele kleine Gesten und Zeichen, die ich leider übersah. Denn ich habe Deine Sprache verlernt. Nicht Du, sondern ICH habe mich von Dir abgewandt. ICH verfluchte Dich, ICH wollte Dich nicht annehmen, so wie Du Dich mir damals zeigtest. Du kamst mir zu hart, zu ungerecht, zu grausam vor. Ich sah nicht mehr die Gesten der Liebe in Dir. Und je mehr ich Dich so sah, desto mehr verfestigte sich solch ein Bild von Dir in meinem Kopf. Du warst in meiner Vorstellung nur noch ein bissiger Hund, der mich bestrafen, mich beißen wollte. Ich betete in verzweifelten Momenten verzweifelt zu Gott, dass Er mich bitte von Dir erlöse. Ich wusste damals nicht, dass Du und Gott eins ist, dass Du mich nur heilen wolltest. Ich war wie ein sturres Kind, das sich weigerte, bittere, aber heilsame Medizin einzunehmen.

Du als Lehrer

So musstest Du, Leben, zu einer radikaleren Medizin greifen. Jetzt weiß ich, dass ich Dich in meiner Blindheit dazu herausgefordert habe. Du schicktest mich in die Fremde, Du ließest mich auf den Grund meiner Verzweiflung sinken, Du hast mir alles weggenommen, was mir damals wert war. Ich sagte „Es ist vorbei“ und malte ein Bild, das ganz schwarz war. Nacht. Depression. Ich bin hinter Deinem Vorhang verschwunden. Ich landete im Reich der Toten bei einem (noch) lebendigen Körper.

DANKE

Ab da gab es paradoxerweise nur Wunder. Natürlich rückblickend. So viel Liebe Deinerseits habe ich erfahren. Mitten in der Dunkelheit hast Du mir langsam und behutsam die Augen für kleine, hübsche Funken des Lichts geöffnet. Ich sah Dich plötzlich, das Leben, im schwachen Grashalm wachsen, im gelben Kopf der Löwenzahnblume in einer schmalen Ritze zwischen den Betonplatten, ich atmete Dich in welken Herbstblättern und grau-blauen Abstufungen des Waldes, ich lauschte Dir an der Schwabach, ich sprach mit Dir als Apfelbäuminnen (sie sind für mich weiblich und mütterlich, denn sie haben mir über all die Jahre des Todes die leckersten Äpfel der Welt geschenkt, umsonst, duftend, strahlend..). Ich umarmte Dich als Eichenbaum und gab mich Dir auf der Erde liegend und entkräftet hin, so dass Du mich mit Deinen Sonnenstrahlen wärmen, liebkosen und nähren konntest. Ich sah Dich, Leben, überall. Du warst mütterlich, fürsorglich, wohlwollend. Du wolltest nur, dass ich Dich und Deine verborgene, im Verborgenen wirkende Liebe bewusst erkenne. Du wolltest nur, dass ich Dich als Ganzes und Bewusstes entdecke, das niemals jemand ausschließt. Dank Dir weiß ich nun:

  • dass Du keine Fehler machst, mich aber gerne alles ausprobieren lässt, was meinem Wachstum und Erkennen dient;
  • dass Du mich immer trägst, vor allem dann, wenn das wegfällt, wovon ich mich getragen glaubte;
  • dass Du immer wunder-voll bist und auch unglaublich humorvoll, vor allem dann, wenn ich mich verzweifelt und hilflos fühle. Dann pflegst Du auf eine besonders intensive Weise;
  • dass Du mich immer mit der richtigen Nahrung versorgst. Mal mit dem Lied einer Meise inmitten des Winters, dann mit köstlichen, auf dem Burgberg selbstgesammelten Äpfeln und Nüssen, die mir meine Eltern geschickt haben, auch mit dem duftenden Moos, das mit seinem Grün im Winterwald das Herz verzaubert;
  • dass Du IMMER da bist, aber nicht immer in der Form, die ich mir wünsche, dennoch IMMER in der Form, die Dich, das Leben, besonders gut offenbart;
  • dass Du immer mit mir sprichst, in verschiedenen Formen und Sprachen, oft sprachlos, nie einstimmig und einseitig;
  • dass Du mich durch mein eigenes nicht-perfekt-sein hindurch wachsen lässt, damit ich mich eines Tages wie eine Lotosblume über den Sumpf erheben und strahlen kann. Damit ich dann auch die Notwendigkeit des Sumpfes erkenne und seinen nährenden Boden zu schätzen und zu würdigen weiß.

Liebes Leben, ich möchte nichts beschleunigen. Mach DU in Deinem Tempo. Du weißt selber, wie lange ich es brauche. Du gibst mir jeden Tag alles Notwendige dafür. Jeden Tag möchte ich über Dich, Leben, staunen und ein bisschen mehr von Deinen Wundern live erleben. Liebes Leben, DANKE, dass es Dich gibt.


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