Be-ziehung vs. Er-ziehung

Beziehung geht auf sich beziehen zurück. Zwei Menschen, die in eine Beziehung zueinander treten, beziehen sich aufeinander wie dies zum Beispiel die Sonne und der Mond im planetarischen Kontext tun. Sie treten auf eine bestimmte Weise in Kontakt. Und Kontakt geht auf lat. contingere ‘berühren, begegnen’ zurück. Durch den anderen begegnet man nicht nur den geliebten Anteilen in sich, sondern auch den verdrägten, vergessenen, nicht-gewürdigten, nicht-gewollten oder gar verachteten Waisenkind-Anteilen. Die Natur hat es so eingerichtet, dass die Begegnung mit dem anderen einen zentralen Stellenwert in unserem Tun und Sein hat.

Aus neurobiologischer Sicht ist ein echter zwischenmenschlicher Kontakt der Treibstoff unserer Motivationssysteme. So schreibt Joachim Bauer in „Prinzip Menschlichkeit“ (2007): „Kern aller Motivation ist es, zwischenmenschliche Anerkennung, Wertschätzung, Zuwendung oder Zuneigung zu finden und zu geben“ (S. 34). Will man also Menschen dauerhaft motivieren, muss man ihnen die Möglichkeit zur Kooperation geben (S. 61).

Gelingende Beziehungen und Kooperation sind das unbewusste Ziel aller menschlichen Bemühens, auch wenn solch ein Bemühen scheinbar scheitert und in einem kriegsähnlichen, aggressiven Zustand endet.

Wenn Beziehungen gestört werden, schaltet das Hirn Stressgene ein, die die Stressachse aktivieren. Dabei werden der Neurotransmitter Glutamat samt Stresshormonen Cortisol und Noradrenalin ausgeschüttet und der Mensch reagiert wie folgt: Zuerst Angst/ Panik und dann entweder Trauer oder Aggression. Dieser Mechanismus läuft unabhängig von unserem Willen ab und wird bereits bei Säuglingen aktiv, wenn eine Bindung nicht funktioniert (S. 62f.). Die Funktion dieses Mechanismus ist nicht, Probleme zu erschaffen, sondern ganz im Gegenteil ein Signal zu geben, dass die Beziehung im Moment gestört ist. Ist eine Lösung gefunden, entspannen sich die Beteiligten und ihre Motivationssysteme feiern einen Erfolg (S. 67)

Damit eine Beziehung gelingt, bedarf es nach Joachim Bauer folgender Komponenten:

# Sehen und gesehen werden

Wie wichtig diese Komponente ist, zeigt sich, wenn man nicht gesehen oder wenn man wie eine(r) unter vielen behandelt wird. Das löst in einem Aggression aus (S. 191). Sowohl bei Tier als auch bei Mensch ist das Bedürfnis gesehen zu werden sogar wichtiger als Selbsterhaltungstrieb. So ist nachgewiesen, dass wenn Tiere dauerhaft ausgegrenzt und isoliert werden, verlieren sie das Interesse am Leben, verweigern die Nahrung, werden krank und sterben (S. 37). Soziale Isolation und Ausgrenzung führen zu Apathie und Zusammenbruch jeglicher Motivation (S. 35f.)

# Gemeinsame Aufmerksamkeit und emotionale Resonanz

Gemeinsame Aufmerksamkeit bedeutet, dass man an dem, was den anderen interessiert, Interesse bekundet und sich nicht abwendet. Andernfalls fühlt sich der andere geringgeschätzt (S. 191).

Emotionale Resonanz heißt, dass man sich auf den anderen emotionell einschwingt und eine emotionelle Anteilnahme zeigt (S. 192).

# Gemeinsames Handeln

Gemeinsames Handeln ist in einem hohen Grad beziehungsstiftend, da es als Zeichen der Motivation erlebt wird (ebd.)

# Verstehen von Motiven

Diese Komponente bedeutet, dass man sich immer wieder aufs Neue um das Verstehen bemüht und nicht nach einem gewohnten Schema urteilt, denn „Verstehen erfordert ein immer wieder neues Nachdenken“ (S. 193). Dazu bedarf es einer guten Beobachtungsgabe, einer guten Intuition und auch eines Gesprächs.

Eine Beziehung ist nach Joachim Bauer ein zweispuriger Weg: Man bewegt sich auf der eigenen Spur, doch man hat auch die „Gegenspur“ im Blick (S. 194). Die eigene Fahrspur erfordert den Mut zum „Man-selbst-Sein“, während die Gegenspur das intuitive empathische Verstehen bedeutet. Beziehungsstörungen treten auf, wenn man „einspurig“ fährt: Entweder ist man ein „Dauer-Versteher“, indem man sich dauernd mit der Gegenspur beschäftigt und sich selbst vergisst, oder man ist ein „Selbst-Spezialist“ und damit blind für das Gegenüber (S. 194f.).

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Während ich diese Stelle im Buch las, spielte sich am anderen Bachufer folgende Szene ab: Eine Frau, die es sichtbar eilig hatte, ´kämpfte´ mit ihrem Hund, der einfach nur da sitzen wollte. Nach einigen Versuchen, ihn zum Laufen zu bewegen, nahm sie ihm die Leine ab und ging ohne ihn weiter. Dem Hund machte es scheinbar nichts aus, denn er genoss seine Ruhe. Die Frau kehrte zurück und streichelte ihn, – ein Versuch, ihn zu verführen. Doch auch dieser Versuch scheiterte. Der Hund war schwer er-ziehbar 😉

Wie oft wurden wir als Kinder auch so er-zogen, indem wir entweder bekämpft (z.B. bestraft) oder allein gelassen (physisch und/ oder emotionell) oder verführt wurden, ohne dass wir das Gefühl hatten, in unseren Bedürfnissen, Gefühlen und Nöten wirklich gesehen worden zu sein. Auch als Erwachsene sind wir in Momenten der höchsten Not für dieselben Hirnstamm-Muster anfällig, sodass wir den anderen dazu bringen wollen, unserer Erwartung zu entsprechen.

Doch dann gibt es aber auch diese kostbaren Erfahrungen der höchsten Gnade, wenn wir uns in unseren Gefühlen und Bedürfnissen offen und verletzlich zeigen. In solchen Momenten wird die Spannung der Gegen-sätze ausgehalten, ohne dass einer sich dem anderen fügen muss. Solche Momente sind für mich ein wirkliches Göttliches Wunder..

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