Heute genoss ich die Morgensonne und das erfrischend-reinigende Plätschern meiner Wasserschwester, der Schwabach. In der Nähe spielte eine junge Mutter mit ihrem Kind. Wie es immer wieder vorkommt: Kinder entdecken über mich ihre Neugier am Wasser und lauschen.
Auch diesen kleinen Jungen lockte die Neugier und er wollte – wie ich – dem Wasser nahe sein. Doch die Mutter hielt ihn mit Gewalt fest, obwohl er viele Meter vom Wasser entfernt war und der Bach an dieser Stelle – selbst für so einen kleinen Jungen – nicht gefährlich ist. Der Junge reagierte mit Widerstand und mit Schreien, so wie es sich gehört (oder was würden Sie tun, wenn jemand Sie gewaltsam festhielte?). Ich drehte mich um, denn ich ahnte, was das Kind signalisierte, nämlich in etwa „Das ist nicht ok, was du da machst, Mama“. Doch die Mutter trug ihn bereits von der „Gefahr“ Bach weg.. Der Junge und ich begegneten uns durch Blickkontakt. Sein Blick drückte Traurigkeit, Ohnmacht, Verzweiflung und auch Enttäuschung aus, dass ich ihm nicht helfe.. Nie habe ich mich bis jetzt getraut, mich in solche privaten Situationen einzumischen. Doch diesmal war Mut an meiner Seite. Ich kam auf die Mutter zu und teilte mein Empfinden mit, teilte meine Erkenntnisse mit, teilte mein angelesenes Wissen über ´unzivilisierte´ Völker mit, wie Erwachsene dieser Kulturen Kindern und deren natürlichen Impulsen trauen, wie sie der menschlichen und nicht-menschlichen Natur an sich trauen, wie bereits den kleinsten Kindern Berührung mit dem Leben zugetraut wird, weil ihren Instinkten vertraut wird, wie Kinder in solch einer Umgebung auch selbst lernen, ihre Instinkte sicher einzusetzen und so auch gefährliche Situationen wirklich zu meistern, wie Kleinkinder an einem Abgrund oder am Wasser krabbeln und absolut souverän ihren Körper beherrschen, nicht weil jemand sie wegzerrt, sondern weil jemand ihnen und ihrer Körperintelligenz absolut und von Anfang an vertraut. (dazu möchte ich allen Interessierten das Buch von Jean Liedloff „Auf der Suche nach dem verlorenen Glück“ ans Herz legen)
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Erwachsene behandeln in solchen ursprünglichen Kulturen Kinder wie Erwachsene , doch strafen sie nie, und wenden auch nicht diesen sinnlosen Babytalk an, der Kinder ganz klar ausgrenzt. Oder stellen Sie sich vor, wenn Sie demnächst mal einer Eltern-Kind-Interaktion beiwohnen, Eltern würden so wie sie mit ihrem Kind umgehen mit einem anderen Erwachsenen umgehen. Haben Sie etwa schon mal erlebt, wie ein Mann seine Partnerin von einem Bach mit Gewalt wegträgt, um sie vor dem Wasser zu schützen?.. Wieso wenden Erwachsene das, was für sie in der Beziehung mit einem Erwachsenen selbstverständlich ist, nicht bei Kindern an?
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Der kleine Junge muss ganz genau gespürt haben, dass ich auf seiner Seite bin. Er startete einen neuen Versuch, sich ganz vorsichtig und sich nach seiner Mutter umschauend (was für seine Kooperation sprach) dem Wasser anzunähern. Diesmal hatte er Erfolg 😊 Wie er in Freude aufging! Er berührte das Wasser, schmeckte das Wasser und wollte immer mehr davon. Seine Augen leuchteten vor Freude und mein Herz auch.
Es war zu sehen, dass die Mutter sehr ängstlich war und ihm und dem Bach nicht ganz traute. Für sie war der Bach nicht ein intelligentes Wesen, sondern eine potentielle Gefahrenquelle. Doch der Junge hatte mich als Verbündete und durfte sich ausprobieren, durfte nach dem Wasser greifen, nach dem Sand, nach dem Leben.. Ich staunte nicht schlecht, als die Mutter seinen Vornamen sagte: Jordan. Der anderthalbjährige Jordan😊 Ist es mit einem solchen Vornamen ein Zufall, dass er das Wasser liebt!?
So viel Lust war der Mutter – unbewusst – unheimlich. (meine These ist, dass sie sich selbst ihre spielerische Lust verbietet). Sie sagte nach einer kurzen Weile zu Jordan, dass nun die Zeit zu essen und zu schlafen ist. Und startete erneut den Versuch, ihn wegzuzerren. Er wehrte sich mit einem Schrei, einem unmissverständlichen Signal, dass das für ihn nicht ok ist. Ich versuchte, es für die Mutter zu ´übersetzen´. So durfte Jordan noch einen Augenblick genießen. Dann fragte ihn die Mutter: „Wollen wir nun nach Hause gehen, um zu essen und zu schlafen?“ Der Junge sagte: Ja. Er fühlte sich nun ernst gemeint und belohnte die Mutter mit Kooperation.
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Es war für mich faszinierend und bestätigend zugleich zu erleben, wie kooperativ wir Menschen von Natur aus sind. Erst im Laufe der Er-ziehung lernen wir, Vorstellungen, Normen, Regeln und Konzepten Folge zu leisten. Auch lernen wir, was wir ´be-greifen´ und was wir auf keinen Fall ´be-greifen´ dürfen, weil es scheinbar gefährlich ist. Folgen sind vielseitig. Unkooperative Politiker und Funktionäre auf kollektiver Ebene zum Beispiel. Ersatzbefriedigungen auf individueller Ebene. Denn wenn Wasser, Menschen, Tiere, Pflanzen und andere Elemente des Lebens nicht ´be-greifbar´, weil gefährlich sind, wird Lebenslust auf eine andere Weise gestillt. Zum Beispiel aus einer sicheren Entfernung auf dem Smartphone-Bildschirm..
Auf dem Heimweg begegnete mir ein Herr, der mir einen total frustriert-boshaft-verzweifelt-lustlosen Blick zuwarf. Es war ihm anzusehen, dass er von seiner Lustquelle ziemlich abgeschnitten war. Hatte er wohl auch so eine auf das Funktionieren statt Leben bedachte Mutter?..
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Dem deutschen Wort schützen liegen ursprünglich Bedeutungen zugrunde, die mit einem echten Schutz wenig zu tun haben: schütten bedeutete im Mittelniederdeutschen ´durch Absperrung in der Bewegung behindern, hemmen, Wasser stauen, einsperren, abwehren’; scutten bedeutete im Mittelniederländischen ‘in einen geschlossenen Raum bringen, einfrieden, absondern’; to shut im Englischen bedeutet auch heute noch ´schließen´.
Es bleibt einem also nichts anderes übrig, als sich zu ent-schließen:)