Vor-geschichte
wir leben auf dem Lande. Es gibt hier ein paar Hühner und drei pubertierende Hähne, die Brüder sind. Sie waren bis heute einigermaßen friedlich und haben ihre Kämpfe spielerisch ausgetragen. Doch heute haben sich zwei von ihnen bis aufs Blut geschlagen. Der tierische Kain und Abel-Konflikt sozusagen.. Thomas und ich standen am Fenster und zweifelten einen Moment, ob wir eingreifen oder der instinktiven männlichen Energie vertrauen sollten, die es unter sich klären und die Rangordnung ´aushandeln´ kann. Wir haben ja so oft der instinktiven wilden Natur vertraut und wir wissen ja, dass das Ursprüngliche im Menschen, – das Tierische, – ein unabdingbarer Teil der Göttlichen Intelligenz ist. Doch sind Hühner und Hähne als längste Begleiter des Menschen – und folglich treustes Objekt seiner Domestizierung – noch wild genug? Vielleicht können sie genau wegen dieser Domestizierung nicht mehr authentisch wild sein? Vielleicht deshalb sind sie so aggressiv?
Ich weiß nicht, ob es die Hähne geschafft hätten, kraft ihrer angeborenen Instinkte in ein konstruktiveres Miteinander zu kommen. Auch wenn es mich sehr interessiert hätte, musste ich eingreifen, als der Kampf recht blutig wurde. Unnötiges Blutvergießen wollte ich ihnen ersparen (bin ich zu kultiviert?..)
Und doch hat sich das Bild dieser tierischen Krieger und ihr stoisch-archaisch-stolzer Blick sehr tief in meine Seele eingegraben. Ich schwankte zwischen Mitgefühl und Bewunderung. Habe ich auch so einen aggressiv-kriegerischen Anteil in mir? Wie soll ich mich zu ihm verhalten?
Denn meine eigenen aggressiven Impulse habe ich längst gelernt zu verurteilen, zu zähmen oder zu verstecken; auch mit fremden aggressiven Impulsen kann ich eher schlecht als recht umgehen. Und überhaupt: Seit Kain und Abel hat Aggression bei uns Menschen einen schlechten Ruf. Doch verdient sie ihn? Ist Aggression gleich Gewalt? Muss Aggression gleich Gewalt sein?
Ist es nicht genau der Vorteil, den wir Menschen haben, dass wir unsere Grenzen abstecken können, ohne ins zwanghaft Triebhafte zu verfallen? (unsere Hähne hatten offenbar eine solche Option nicht, als sie abwechselnd einander angriffen und voreinander flüchteten. Ihr aggressiver Trieb hätte sie vielleicht sogar das Leben gekostet..)
Aggression
Dem Wort Aggression liegen zwei lateinische Wörter zugrunde: gradī (´schreiten´), und ad– (´zu, an, hin(zu), heran, herbei’). Das lateinische aggredī bedeutet ´auf jmdn. oder etw. zugehen, losgehen´. Es ist eine Kraft, die eine Fortbewegung und Entwicklung ermöglicht. Diese Kraft steht im Gegensatz zur Stagnation und Erstarrung. So ist längst nachgewiesen, wie wichtig dieser Trieb bei einer Geburt ist. Ohne einen aggressiven Befreiungsimpuls hätten wir einst den mütterlichen Schoß nie verlassen können. Auch später im Leben ist diese Kraft entscheidend, um von einem unerwünschten Zustand in einen lustvolleren Zustand gelangen zu können. Psychoanalytiker bezeichnen diese Art der Aggression als konstruktiv. Nach Jeannette Fischer z.B. ist konstruktive Aggression „eine Energie, die wir nutzen, um uns für uns selbst, für unsere Interessen und Bedürfnisse einzusetzen“ (Jeannette Fischer: Hass, 2021: 10). Das Merkmal einer konstruktiven Aggression ist, dass man dank ihr selbstwirksam ist und sein Bedürfnis befriedigt, ohne jemand dabei zu schaden (vgl. ebd.). Ein Säugling z.B. macht von dieser Aggression Gebrauch, wenn er schreit, um auf ein Bedürfnis aufmerksam zu machen, das er noch nicht befriedigen kann. Es ist seine lebensbejahende Kraft, diese konstruktive Aggression. Sie will auch von außen als solche bejaht werden. Wird aber oft nicht..
Wird sie jedoch (bei manchen bereits im Säuglingsalter) nicht bejaht, wird sie – so Jeannette Fischer – in Hass oder Angst (die eine verdrängte Aggression ist) umgewandelt. Ein ursprünglich lebensbejahender Trieb wird auf diesem Wege in einen zerstörerischen Impuls ver-kehrt. Konstruktive Aggression wird zu einer destruktiven, vernichtenden. In diesem Fall richtet sich diese Vernichtungskraft entweder nach außen oder nach innen, gegen sich selbst.
Bioenergetiker wie z.B. Alexander Lowen weisen nach, dass wenn ein aggressiver Impuls verdrängt wird (wie es die soziale Norm frühzeitig von uns einfordert) ein Mensch schizophren, neurotisch oder depressiv wird, da ihm die Kraft fehlt, sein Leben selbstwirksam und eigen-ständig zu gestalten.
Diese Kraft fehlt ihm, weil er sie rechtzeitig verbannen/ verdrängen musste, da sie von niemandem gewürdigt wurde. Und da jeder Mensch (wie jedes Wesen) in Würde leben will, verdrängt er gerne das, was ihm scheinbar seine Würde nimmt (als Kind kommt man ja nicht auf die Idee, dass einem eigentlich nicht die eigene Aggression die Würde nimmt, sondern ein Gegenüber, das einen mit seiner Aggression nicht annimmt und gar bestraft). Folgen einer Verdrängung sind manchmal total und fatal.
verdrängte Aggression
Was zuerst ein Überlebens- und Anpassungsakt (an Familie und Gruppe) war, wird einem später zum Verhängnis. Denn genau weil die Aggression in der Psyche so gut versteckt werden musste und scheinbar nicht mehr da ist, kann sie unbemerkt wirken. Sie kleidet sich in Gewand der Güte, der Liebe, der Fürsorge, dieses heimtückischen „Ich will-dir-nur-Gutes“-Mantras. Unbemerkt und aus dem Hintergrund kann sie dann unkontrolliert und heim-tückisch wirken, indem sie womöglich das (zer)stört, was man eigentlich schützen wollte: Sich selbst und/ oder einen guten Draht zum Gegenüber.
Eine unbewältigte, unbeherrschte – herrenlose sozusagen – Aggression überwältigt und bringt viele Spielarten der Gewalt hervor. Sie erobert sich – offensichtlich oder verdeckt – dort den Raum, wo etwas anderes hätte wachsen können: Freundschaft, Vertrauen, Liebe, gelungene Beziehung, Kooperation..
Sie entlädt sich an ungeahnten Stellen und tut den Beteiligten erst recht weh. Sie vergiftet und belastet Beziehungen schlagartig oder schleichend. Oder sie erweist sich als Lustfresserin. So werden aus einer verdrängten Aggression viele Frauen und Männer verbittert und vergiften – ohne es selbst zu ahnen – mit gutgemeinten Rat-schlägen oder mit Zuckersüßem ihre Kinder wie einst die Hexe das Schneewittchen.
Aus verdrängter Aggression macht man nicht nur andere, sondern auch sich selbst zum Objekt, um einen – scheinbar nicht bewältigbaren Konflikt – um jeden Preis zu meiden und sich so scheinbar zu schützen. Doch zum Objekt fremden Willens geworden, ist man erst recht ungeschützt, womöglich geplündert oder auch nur verwaltet.
Apropos ver-walten.. Andere zu ver-walten ist eine raffinierte Maulwurfstechnik. Der Maulwurf hat nämlich eine erstaunliche Methode entwickelt, Regenwürmer für den Winter ´einzulegen´: Er beißt ihnen lediglich den Kopf ab, sodass diese – jeglicher Orientierung beraubt – gezwungen sind, sich im Umfeld des Maulwurfs aufzuhalten. Auf diese Weise kann der Maulwurf seine naive Beute frisch-lebendig ganz nach Belieben ver-walten, die gar nicht versteht, was ihr geschieht..
Ge-walten, ver-walten oder walten?
Gibt es eine Möglichkeit, aus dem Teufelskreis destruktiver Aggression auszusteigen, ohne dass man – den Hähnen ähnlich – selbst aktiv ge-waltet und/ oder – einem Objekt ähnlich – ver-waltet wird?
Ich glaube ja.
Vielleicht bin ich zu verkopft, doch für mich eilt einer neuen Möglichkeit im außen die Kraft der Erkenntnis voraus. So gilt es zuerst, Gewalt in ihren unzähligen Spielarten zu erkennen, zu benennen und sich ihr bewusst konstruktiv zu entziehen.
Ich habe erkannt, dass Gewalt mir oft im Gewand einer Gutmütigkeit begegnet ist. Es war eine „Ich meine es gut mit dir“-Gewalt. Eine andere Spielart der Gewalt war, mich nicht in eine konstruktive Aggression kommen zu lassen, indem sie mich von vorne rein als Täter abstempelte, wenn ich (mal mehr und mal weniger gelungen) auf meine eigenen Grenzen hinweisen wollte. Diese Gewaltart machte aus mir von vorne rein Täter, denn wenn ich der Täter bin, ist der andere automatisch ein Opfer (Schuldumkehr, auch gaslighting genannt, ist eine beliebte narzisstische Technik). Manche Gewalt spekulierte mit Angst („Es wird so-und-so-sein“-Gewalt). Diese Art der Gewalt suggerierte mir, dass von mir absolut nichts abhängt und dass ich ohne Macht, ohn-mächtig bin. Damit ich mich in das Schicksal eines Regenwurms ohne Kopf füge?.. Ein anderes Mal setzte mich die Gewalt einfach nur unter (Zeit- oder Leistungs)Druck oder – noch subtiler – sie strafte mich mit Ignoranz, Überhören und Sich-von-mir-Abwenden genau dann, wenn ich mich verletzlich und in sensibelsten Seelenanteilen zeigte..
Gerade weil ich so viele Spielarten der Gewalt kenne, weiß ich, dass ich ohne Gewalt leben will.
Ohne Gewalt zu leben heißt für mich selbstehrlich und selbstwirksam zu leben und mich meiner Lebensenergie, Lebenslust und Lebensimpulse nicht berauben zu lassen, mich nicht unbewusst fremden Erwartungen oder Zeitplänen zu beugen (ein Miteinander ist etwas anderes), sondern mit meinem Gegenüber auf Augenhöhe zu kooperieren, mein ursprüngliches Wesen, die Seele, immer mehr zum Vorschein kommen zu lassen. Denn dies wäre aus meiner Sicht die beste Vor-beugung, um nicht einer Ge-walt-tat oder Ver-walt-tat zum Opfer zu fallen. Denn wenn ich selbstwirksam bin, walte ich in meinem (Seelen)Raum, in dem mir vom Schöpfer anvertrauten Raum, wachsam und einfühlsam.
Walten verstehe ich so: aus eigener Mitte, selbstwirksam, lustvoll und in einem authentischen Miteinander zu leben und einvernehmlich zu handeln.
Nicht umsonst geht walten auf das althochdeutsche Wort waltan zurück, das neben den üblichen Bedeutungen wie ‘Gewalt haben, herrschen, in Gewalt haben, besitzen´ auch die Bedeutungen ´sorgen, pflegen, bewirken´ hat. In dieser Bedeutung ist der Herrscher kein Schattenkönig wie der Onkel im „König der Löwen“, sondern ein Sonnenkönig wie der König im „König der Löwen“. Er ist im wahren Sinne stark (dem Wort waltan liegt die indoeuropäische Wurzel *u̯al– zugrunde, die nämlich das bedeutet: ‘stark sein’).
Dessen Stärke ist nicht gefaked oder getuned, sondern kommt aus dem Inneren. Er missbraucht seine Stärke nicht dafür, „um das zu holen, was er will“, sondern sowohl in seinem als auch im Sinne anderer. Er dominiert andere nicht wie sein narzisstischer Schatten-Onkel, sondern sorgt für ein sensibles Gleichgewicht zwischen sich und den anderen, zwischen seinem eigenen Bedürfnis nach Autonomie und seinem eigenen Bedürfnis nach Nähe und Miteinander. Er spürt diese Bedürfnisse in sich selbst und folglich spürt er auch diese Bedürfnisse in anderen. Äußere Ordnung kann er genau deshalb er-reich-en, weil er eine Ordnung in sich selbst spürt. Folglich kann er in eine lebendige Beziehung mit seinem Umfeld treten. Dazu braucht er keine äußeren Machtsymbole, die das kompensieren, was er im Inneren nicht spürt. Seine Macht ist deshalb weder Gewalt noch Ohnmacht.
Das ukrainische Wort vlada (´Macht´) verweist sehr treffend auf die Balance zwischen der inneren und äußeren Macht. Einerseits geht es ebenfalls auf die indoeuropäische Wurzel *u̯al (‘stark sein’) zurück. Andererseits lässt es sich als w ladu,´in Ordnung (mit sich selbst)´ paraphrasieren.
Vermisst unsere Welt nicht genau diese Art der Herrscher, die keine Macht über andere er-greifen, sondern denen die Macht von anderen natürlichereweise ver-liehen wird, weil sie in eine innere Ordnung mit sich selbst und mit der Schöpfung gekommen sind? Wäre in diesem Fall ´Macht er-greifen´ gar überflüssig?..
Wäre unsere Welt nicht wieder in Ordnung, wenn jeder von uns dieses Ziel für sich anstreben würde: Zuerst in einer Art innerem Klärungsprozess sich selbst zu ordnen, sich seiner selbst und der innewohnenden Kräfte zu er-mächtigen und als Folge die Macht in der Welt zu bekommen, die einem dann natürlicherweise zukommen würde. Macht wäre dann kein Kompensationsmittel, sondern ein wahrer Ausdruck der inneren Stärke. In solch einer Welt will ich leben.