Ersatz

Ersatz steht unter anderem für etwas, was eine Lücke ausfüllt. Fehlt etwas oder gilt als unerreichbar, unbekannt etc., so wird an seine Stelle etwas anderes gesetzt.

Letzte Woche sind unmittelbar aufeinander zwei Begegnungen passiert, die mich auf eine tiefe menschliche Sehnsucht aufmerksam machten: Sehnsucht nach Echtem.

Begegnung mit einem Freund

Ein guter Freund kam zu Besuch. Wir standen in der Küche, als sein Blick auf viele Kräutertees im Regal fiel und er fragte, ob er an ihnen riechen könnte. „Ja klar“, erwiderte ich. Sein spontaner Wunsch stand im Kontrast zum Duft, den er selbst mitgebracht hat (Parfum? Deo? Rasierwasser?). Höchstwahrscheinlich erfüllte ihn der künstliche Duft doch nicht so (zumal er diesen auch nicht wahrnahm, wie er im nachfolgenden Gespräch über Düfte selbst zugab). Der schlichte Duft von selbstgepflückten Kräutern muss ihn an etwas Echtes erinnert haben. An die Kindheit?..

Begegnung mit einer Rose und drei Biertrinkenden

Ich gehe ab und zu im Skulpturengarten spazieren, der am schönsten Platz der Stadt liegt: Am Burgberg. Seit Januar begegnete ich dort einer Rosenknospe. Sie konnte sich nicht öffnen, weil es zu kalt war, dennoch warm genug, damit sie überleben konnte. Jedes Mal habe ich mich an ihr erfreut und sie in Gedanken ermutigt: „Bald kommt der Frühling. Bald kannst du dich, liebe Blume, öffnen“.

Der Frühling kam, aber die Blume ist nicht erblüht: Jemand hat ihr den Kopf abgebrochen:

Ich habe probiert, mir diesen Jemand vorzustellen. War es eine Frau? War es ein Mann? Ein Kind vielleicht? Geschlechts- oder Alterszuordnung führte aber nicht weiter. Nur eins war klar: Jemand musste in Not gewesen sein, so im Mangel am Echten, dass sie/er sich diese Blume aneignen musste. Die Blume fiel einem längst verdrängten Verlangen nach Echtem zu Opfer. Es musste jemand sein, der/ die sich insgeheim zum Natürlichen hingezogen fühlte. Wusste diese(r) Jemand, dass die Blume im Moment des Abreißens auch zum Objekt, zum Ersatz wird, da sie ihre Lebendigkeit verliert? Kannte diese(r) Jemand keinen anderen Weg als diesen, die Sehnsucht nach Echtem zu stillen?

Etwas weiter im Garten saßen drei Jugendliche auf einer Bank und tranken Bier. Auch sie gaben sich mit einem Ersatz zufrieden. Diente das Bier als Ersatz für echte Freude am Leben? Wollten sie vielleicht damit ihre Sehnsucht nach etwas oder jemand überspielen? Fühlten sie noch Sehnsucht oder haben sie diese bereits begraben?.. Ich traute mich nicht, nach ihrer Motivation zu fragen und gab mich mit meinen stillen Vermutungen zufrieden. Ich feige;)

Supermarkt <=> Garten

Vor ein paar Tagen begegnete mir diese Anzeige in einem Werbeprospekt:

Es wird mit billiger, mehr, schnell (5 Minuten, Instant) und künstlich (Enten-, Huhngeschmack) angelockt, womit diese Qualitäten als begehrenswert impliziert werden.

Ein Ersatz ist für jedermann/ -frau schnell, für nicht viel Geld und in großen Mengen zugänglich, scheint aber nicht wirklich oder zumindest nicht für lange zu befriedigen (denn wozu wäre dann schnell und mehr?).

Zukunftsvision

Thomas ist Comic-Fan und hat einige alte Comics im Bücherregal stehen. Eins fand zufällig zu mir, mit dem Titel „Die Gärten von Edena“ von Moebius (1990). Zwei Freunde werden nach einer Weltraumkatastrophe auf einen seltsamen Planeten verschlagen. Sie landen in einem üppigen Paradiesgarten voller reifer Äpfel. Obwohl sie fast vor Hunger sterben, haben sie Zweifel, ob sie die seltsamen Früchte essen können. Der eine hat mal gehört, dass man sich in grauer Vorzeit von „biologisch gewachsenen Früchten“ ernährt hat. Beide zweifeln jedoch zutiefst, ob sie eine solche Nahrung noch verdauen könnten. „Außerdem… etwas Lebendiges essen!.. Das wäre ja… ekelhaft!.. widerlich!.. (…).“

Haben wir bereits kollektiv diese Richtung eingeschlagen?, fragt eine Stimme beunruhigt in mir. Oder setzt sich die Sehnsucht nach Echtem doch noch durch, die uns an das lebendige Leben in Verbundenheit mit allem erinnert, das wir zumindest als Kinder erlebt haben. Solange diese Sehnsucht zumindest im Stillen, im Verborgenen (Rosenköpfe abreißen) oder im Kleinen (an Kräutertees riechen) lebt, gibt es Hoffnung;)

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