„Bodenbündiger Rückschnitt“ oder Banalitäten des Unbewussten

Das Haus, in dem wir seit einiger Zeit wohnen, soll demnächst „attraktiver gestaltet“ werden, wie neulich im entsprechenden Brief („Ankündigung einer Modernisierungsmaßnahme“) verkündet wurde. Kurz darauf traf noch ein Brief mit Betreff „Rückschnitt Gehölze für Gerüststellung“ ein. Hier ein Auszug:

„Wir bitten Sie daher, eigene Pflanzen, Sträucher, Blumenzwiebeln oder Ähnliches zu entfernen, da bei allen Pflanzen ein bodenständiger Rückschnitt erfolgt. Für Beschädigungen an nicht entferntem Eigentum übernimmt weder die ausführende Firma noch die GBW Haftung.“

Beim Lesen dieses Briefes drehte sich bei mir ein paar Mal einiges im Bauch um (der Bauch mit seinen intuitiven Gefühlen hat wie immer recht…). Thomas und ich brachten es zur Sprache, indem wir uns über den bürokratischen Begriff „bodenständiger Rückschnitt“ sowohl wunderten als auch empörten, denn es geht de facto um den Tod für die betroffenen Pflanzen. Unternommen haben wir aber nichts.

Und dann…

Und dann passierte Folgendes. Eines Morgens wurden wir auf ein lautes Geräusch unter den Fenstern aufmerksam. Thomas meinte: Das Geräusch steht für das ständige Rattern des Verstandes im Gehirn des homo sapiens. Ich schaute zum Fenster hinaus und erinnerte mich beim Anblick der uniformierten und sich hastig bewegenden Männer, die sich durch ihre Eile beim Tun und Zigaretten im Mund besonders auffällig machten (als ob die Eile ihre Scham und Schuld verstecken und der Zigarettenrauch ihre Köpfe benebeln wollten…) an diesen Brief mit dem „bodenständigen Rückschnitt“. Uns wurde im Nu klar: Wir sind lebendige Zeugen einer vor unseren Augen durchgeführten „Vergewaltigung“ an der Natur vor unserer Haustür durch die beauftragte „ausführende Firma“. Alles in uns schrie: Wie konnten wir das bloß zulassen?.. Hilflosigkeit, Ausgeliefertsein… Hätten wir etwas unternehmen können, müssen?..

Ja, sagte Thomas, wir hätten doch mit anderen Hausbewohnern ins Gespräch kommen, Unterschriften gegen die über unsere Köpfe hinweg beschlossene „Verschönerungsmaßnahme“ sammeln können, dann wären die Sträucher und Bäumchen vor dem Haus nicht den latenten Gewalttätern zum Opfer gefallen, die ihre Aggressionen auf diese Art unbewusst ausleben (ja klar, ist halt ihr Job…).

Aber jetzt war es zu spät. Die Pflanzen konnten sich nicht zur Wehr setzen. Sie können nicht einmal sprechen… Denkt Ihr, dass es ein Zufall ist, dass immer Schwächere zum Opfer fallen, Pflanzen, Tiere, Kinder…? Sie sind auf das Bewusstsein von uns Stärkeren angewiesen. Und wenn das Bewusstsein unbewusst ist, fallen sie dem individuellen bzw. kollektiven Unbewussten zum Opfer. Sie opfern sich selbst sozusagen. So haben sich die Pflanzen vor unserem Haus hingeopfert, damit wir einiges erkennen.

Erkenntnis #1

Das fehlende Bewusstsein lässt Verletzungen des Lebens zu oder führt sie unwissend herbei.

Was ist das Bewusstsein und was ist das Leben? Es sind zwei energetische ´Stränge´ in uns selbst, in allem Lebendigen, in jedem Lebewesen, wobei der Grad des Bewusstseins darüber entscheidet, was ich für lebendig und was ich für nicht-lebendig halte… Der Bewusstseins-Strang ist die männliche Energie; der Lebens-Strang ist die weibliche Energie. Ying und Yang, Gott-Vater und Göttin, die sehr ´mager´, als verkürzt-verschleiernd und zweitrangig durch Gottes Mutter im Christentum vertreten ist. Dabei haben diese Energie-´Stränge´ nichts mit dem biologischen Geschlecht zu tun, dem eine allzu große Rolle in den letzten Jahrtausenden beigemessen wurde. Denn ob Mann oder Frau – beide haben diese zwei Energie-Ströme, ohne die sie nur jeweils eine Körper- und eine Gehirnhälfte wären… Das Verleugnen des Weiblichen im Mann führte zum Macho-Sein und das Verleugnen des Männlichen in der Frau führte zum Syndrom der erlernten Hilflosigkeit, zum Minderwertigkeitskomplex. In diesem Zusammenhang möchte ich auf die in uns allen psychisch verankerten Figuren von Adam und Eva eingehen.

Verfehlung von Adam und Eva in jedem von uns

Nennen wir den Bewusstseins´strang´ Adam und den Lebens´strang´ Eva, um die falsche Gleichsetzung mit Mann und Frau zu vermeiden. Sie haben ja laut Bibel „gesündigt“, wobei Sünde in der ursprünglichen Deutung nicht das moralisch aufgeladene Fehlverhalten, sondern schlicht und einfach Verfehlung beim Bogenschießen bedeutete.

Während Sünde blockierend wirkt, da sie sich falsch verhalten impliziert, befreit Verfehlung von einer solchen Schuld-Last. Denn jedes Wesen auf diesem Planeten befindet sich in einem eigenen Lernprozess und muss deshalb oft verfehlen. 

Denkt an Eure ersten Gehversuche im frühen Alter oder erste Sprechversuche beim Erlernen einer Fremdsprache. Ich bin mir sicher, weder Buddha noch Christus haben das sofort gekonnt:) Nur der Verstand konnte sich deren Unfehlbarkeit einbilden, um andere damit zu maßregeln und zu demütigen… Auch Christus und Buddha mussten – nicht anders als wir alle – mehrmals verfehlen, auch sie waren erstmal oder eine Zeit lang Adam und Eva.

Adam und Eva im Lernprozess

Wo verfehlen sie also?

Hier beziehe ich mich auf den Weltbestseller von John und Stasi Eldredge „Captivating. Unveiling the Mystery of a Woman´s Soul“. Adams häufige Verfehlung ist, dass er das Leben verrät, in dem alles entscheidenden Moment für das Leben nicht kämpft, kein Risiko eingeht. Er wird stattdessen entweder passiv oder aggressiv. Das ist seine Verfehlung. Ihm fehlt am Bewusstsein, um zugunsten des Lebens zu handeln.

Um es auf den selbst erlebten Fall zu beziehen: Der Adam in uns hätte sich rechtzeitig bewusst werden können, dass da Unrecht mit Pflanzen und schließlich auch mit den Hausbewohnern passiert. Wir hätten uns rechtzeitig für das Leben einsetzen können. Wir haben es nicht getan, also verfehlt.

Und Eva? Wo verfehlt normalerweise die Eva in uns? Wo sind ihre ´Schwachstellen´? Sie vertraut dem Leben nicht , sie will deshalb aus diesem Misstrauen heraus entweder selber ´Mann´ werden und so alles in ihre Hand nehmen, im Griff haben, oder sie leidet an Einsamkeit, wird ängstlich, eingeschüchtert, hilfs- und liebesbedürftig. Sie verliert auf diesem Wege ihre Schönheit und Verletzlichkeit, die eine lebensheilende und -spendende Kraft in uns sind.

Klar, die Pflanzen können nichts in ihre Hand nehmen oder an Einsamkeit leiden (obwohl wer weiß…) Aber sie zeigen ihre Verletzlichkeit und dies werden sie uns ab jetzt jeden Tag in Form vom „bodenständigen Rückschnitt“ zeigen. Auch ihre Schönheit haben sie verloren. Denn das Bewusstsein, der Adam in uns und anderen Hausbewohnern, hat verfehlt.

Erkenntnis #2

Banalität des Unbewussten.

Es ist also nicht die „Banalität des Bösen“ nach Hannah Arendt, die der Welt Verwüstung und Tod bringt. Es ist die Banalität des Unbewussten, um es an Hannah Arendt anzulehnen. Denn aus dem oben Gesagten folgt, dass niemand gestern absichtlich den Pflanzen Tod gebracht hat. Niemand ´wollte´ sie verletzen, also eine böswillige Handlung ausführen. Genauso wie Eichmann im Film „Hannah Arendt“ behauptet hat, dass er den Tod der Juden nicht ´wollte´, sondern dass er nur seinen Job pflichtgemäß ausgeführt hat, indem er treu den Gesetzen damals gefolgt ist…

Wenn er bewusster gewesen wäre, hätte er sagen können, dass es ihm nicht bewusst war, was er da tat. Also er war nicht böse, sondern ´nur´ unbewusst. Iich rechtfertige ihn an dieser Stelle nicht, aber auch verurteilen will ich ihn nicht, denn ich stecke auch selbst im Lernprozess, das sich das Leben nennt. Ich lerne lieber alle Menschen, die mir auf dem Weg begegnen, als Wegweiser und Begleiter in meinem eigenen Wachstunsprozess wahrzunehmen.

Wir haben auf diesem Weg alle und immer wieder verfehlt. Nicht weil wir böse waren, sondern weil wir es zum Zeitpunkt des Geschehens nicht anders konnten. Wir haben es nicht rechtzeitig gesehen, gehört, also nicht erkannt. Sondern erst danach, wenn es dann oft zu spät war.

Aber daraus haben die meisten von uns etwas gelernt, wir wurden bewusster. Durch unsere Verfehlungen mussten wir aber auch uns und andere verletzen.

Es geht um uns

Bewusstwerdung ist also der einzige Weg, weniger zu verfehlen, schneller zu lernen sozusagen. Dabei geht es nicht im Allgemeinen um das Wohlergehen des Lebens auf dem Planeten, auf dem Pflanzen, Tiere und Menschen nur unterschiedliche Manifestationen des Lebens sind. Es geht im Konkreten um uns.

Denn: Das eigene Unbewusste verletzt ja ständig nicht nur das Leben in Anderen, es verletzt ständig das ´eigene´ Leben. Es hat sich ja bereits auf individueller wie kollektiver Ebene oft genug erwiesen, dass wenn ich heute Zuschauer bin, wie ein Lebewesen ´zurechtgeschnitten´ wird, so kann das morgen durchaus mit mir passieren, dass ich meiner Selbst-Bestimmung beraubt werde. Das passiert ja de facto permanent. Um dies zu veranschaulichen, wie sich ein Raub der Selbst-Bestimmung sprachlich, im Spiegel der Sprache, manifestiert, führe ich noch einmal den anfangs zitierten Ausschnitt aus dem Brief an, wobei ich die entsprechenden sprachlichen Marker in Fettdruck setze und mit Indizes versehe:

„Wir bitten Sie daher, eigene Pflanzen, Sträucher, Blumenzwiebeln oder Ähnliches zu [entfernen]1, da bei allen Pflanzen ein [bodenständiger Rückschnitt]2 erfolgt. Für [Beschädigungen an nicht entferntem Eigentum]3 [übernimmt weder die [ausführende Firma]4 noch die GBW Haftung]5.“

# (Pflanzen) [entfernen]1 steht für ´Leben entfernen´, also etwas, was in dem Moment als das, was zu opfern ist, bestimmt wird.

# [bodenständiger Rückschnitt]2 ist eine bürokratische Verschleierung des Tötens und damit Verharmlosung einer konkreten Handlung, die im Unbewussten vor sich selbst versteckt wird, um sich selbst zu beruhigen. Aufrichtige Benennung einer Handlung könnte stattdessen als Weckruf des Bewusstseins dienen.

# Mit [Beschädigungen an nicht entferntem Eigentum]3  werden Pflanzen lediglich als fremdes Eigentum bezeichnet , nicht mehr als einzigartiger Ausdruck des Lebens wahrgenommen; Eigentum macht aus Pflanzen ein Objekt, dessen Handhabung durch Verträge geregelt wird (auch aus Menschen werden durch Verträge nur Objekte übrigens gemacht).

# [ausführende Firma]4 signalisiert, dass es sich um eine Arbeitsteilung handelt, und es der Job der Firma XY ist. Um es auf den Punkt zu bringen: „Wir als Auftraggeber und diejenigen, die davon in der Zukunft profitieren werden, haben damit nichts zu tun.“

# [übernimmt weder X noch Y Haftung]5 steht dafür, dass Verantwortung abgegeben wird. Worin ja die Ironie des Unbewussten per se besteht: Ich tue etwas, aber ich bin dafür nicht verantwortlich. Ich kann nichts dafür. Ich habe das ja nicht in Auftrag gegeben. Wie kann sich dann jemand, der sich jeder Verantwortung für sein Handeln losgesagt hat, verantwortlich fühlen?..

Banalitäten des (Un)Bewussten

Es verlangt von uns eine gewisse Umschulung, den Blick des Bewussten auf das alltägliche Geschehen zu richten. Die Schaltzentrale liegt in uns, ob wir in eine unbewusste, durch viele Wiederholungen automatisierte Handlung ´abrutschen´, oder bewusst eine Handlung bzw. Nicht-Handlung ausprobieren, die aus dem Bauch statt dem Verstand kommt. Für uns, oft/ meist verstandeshörige Menschen, ist es eine echte Herausforderung, auf das Kommando des Verstandes zu verzichten und mal der Stimme des Herzens oder des Bauches zu folgen, die Intuition zu würdigen. Die Belohnung ist der Geschmack des Lebens. Der Unterschied ist wie der zwischen einem Supermarkt-Apfel und einem vom Baum frisch gepflückten Apfel.

Jenseits des Verstandes fängt das Leben an. Und es liegt an uns, wofür wir uns entscheiden.


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